Geh´ ich durch Venedig, muß ich immer wieder ´mal an Karl Valentin denken. Denn kaum an einen anderen Ort passt sein Spruch „Es ist alles schon einmal fotografiert worden, nur nicht von jedem“ so gut wie hier. Diese „auf dem Wasser“ gebaute Stadt wirft Fotografen eines nach dem anderen Motiv vor die Linse. Wer es gewohnt ist, seine Umwelt Stück für Stück in die Kamera zu bannen, sollte hier nicht ohne diesen „Zauberkasten“ unterwegs sein. Denn nach jeder Wegbiegung, jedem Überqueren eines Kanals und jeder – auch noch so geringen – Verschiebung der Lichtreflexe auf dem Wasser und an den Häuserfassaden ruft es von überall her „Komm, fotografiere mich“, „Lass mich in deine Kamera huschen“ und „Nimm mich mit nach Hause“.
Das Wetter ist dabei fast Nebensache. Ob bei Sonnenschein, bedecktem Himmel oder Regen, immer reizt dieses Flimmern, dieses um die Ecke und noch ein Ecke Biegen die Sinne. Diese Stadt ist Irrgarten und Erleuchtung zugleich. Kurz: sie ist einmalig. Und bleibt es auch, wenn man sie immer und immer wieder besucht.
Venedig macht süchtig
So überrascht es nicht, dass auch in unserer Gruppe wieder einige sogenannte „Wiederholungstäter“ dabei sind. Diese Stadt nutzt unbarmherzig das Suchtpotential aller Sehenden und Fühlenden. Und wer auch schon ein oder zwei dutzend Mal auf der Akkademie-Brücke oder dem Markusplatz zu frühsten Morgenstunde war, wird immer wieder mit neuen Lichterspielen belohnt, eingebettet in tiefe Erinnerungen.
Zur allgemeinen Entschleunigung schlendern wir am ersten Tag der Reise bei einem fotografischen Rundgang durch „unseren“ Stadtteil Dorsoduro. Die Herbstsonne wirft lange Schatten auf den Plätzen, Gassen und Sträßchen. Jetzt kann man sein Auge schulen für grafische Strukturen und Lichteffekte jeder Couleur. Zartes Licht, hartes Licht, lange Schatten, kurze Schatten, Spiegelungen im Wasser, Spiegelungen in den Fenstern, grob gezeichnetes Mauerwerk, verwitterter Putz, rostige Geländer, schwarze Rümpfe der Gondeln mit knallroten Samtsitzen darin. Das Angebot an Motiven ist unermesslich. Gefragt sind Wahrnehmung, Inspiration und Bildideen.
Wahrnehmung und Kreativität statt Wissen
Gefühlsregungen und eine komplexe Vorstellungskraft stehen immer am Anfang des fotografischen Prozesses. All zu oft widmet man sich technischen und logischen Abläufen anstatt sich losgelöst in die Phantasie und Kreativität fallen zu lassen. Entspannt sein und konzentriert zugleich auf der emotionalen Ebene. Zu glauben, man wisse ja nicht genug über die Fotografie, lenkt auf eine falsche Fährte. Grundbegriffe reichen, und die Kenntnisse nur mit dem ausbauen, was handlungsfähig macht.
Zu dem heiligen Glauben an das allumfassende Wissen kann ich mir auch Karl Valentin vorstellen. Er würde wahrscheinlich sagen: „Die Wahrscheinlichkeit, dass alle alles wissen entspricht wahrscheinlich jener, dass keiner nix weiß“.
Die Akkademiabrücke am nächsten Morgen zur Blauen und Goldenen Stunde ist immer wieder ein idealer Standort für fotografische Klassiker. Natürlich gehört die Langzeitbelichtung dazu, um die Lichteffekte fahrender Vaporettos und Lastkähne mit ihren Fahrstrichen ins Bild zu zaubern. Großartig ist dieser Standort aber auch, um zu experimentieren. Das Spiel mit der Kamera und dem Objektiv ermöglicht wunderbare Kompositionen von Licht und Grafik. Jedes Bild wird damit einmalig und unwiederholbar. Und es kann ein weiterer Schritt sein zum eigenen Stil. Zumal wenn man das Werk später am Computer in der Bildbearbeitung vollendet.
Farbenpracht Burano
Am nächsten Morgen gummi-stiefeln wir über eine Stunde vor Sonnenaufgang zum Markusplatz. Wasser von oben und unten und dazu ein kräftiger Wind, der den Aufwachprozess mit Nachdruck beschleunigt. Belohnt wird man auch jetzt. Ob samtene Oberflächenbehandlung per Langzeitbelichtung und tröpfchenscharfe Darstellung mit schnellen Verschlusszeiten: Jeder nach seinem Gusto.
Nach einer ersten Bildbesprechnung machen wir einen weiteren Rundgang durch Dorsoduro, bei dem wir vor allem prachtvolle Motive zur Available-Light-Zeit vor die Kamera bekommen.
Farbenprächtig wird es am nächsten Tag bei unserem Ausflug nach Burano. Die kleine Fischerinsel zeigt sich wie ein bunter Fleckenteppich mit unterschiedlichen krassen und grellen Farben. Zudem doppeln sich die schrillen Fassaden in den Kanälen zu einem wahren Lichterspiel.
Die Reportage steht am nächsten Morgen auf dem Fischmarkt auf dem Programm. Neben Fisch gibt es hier auch Gemüse, Obst, Gewürze, Kräuter und Dinge des täglichen Bedarfs. Einige Händler würden gern mehr verkaufen als Darsteller eines traditionellen Vorstellung zu sein. Denn viele Kunden von früher sind heute auf das Festland gezogen, wo die Mieten und Lebenshaltungskosten weit niedriger sind als im Touristenmagneten Venedig.
Immer Winter kehrt Ruhe ein
In der Kritik stehen auch die riesigen Kreuzfahrtschiffe mit ihren tausenden Passagieren, sie fast täglich über die Stadt herfallen. Sie lassen kaum Geld in der Stadt, weil an Bord fast alles inklusive ist. Zudem verpesten die Kolosse die Luft an diesem historischen Ort und beschädigen bei ihrer Fahrt durch den Schwell die Substanz der ohnehin gefährdeten Häuser und Paläste.
Die Bevölkerung hat sich deutlich gegen die Besuche der Kreuzfahrer ausgesprochen,- und ab kommendem Jahr soll damit auch endlich Schluss sein.
Im Winter kehrt Ruhe ein in diese einmalige, wunderbare Stadt. Vielen Menschen ist es jetzt für einen Besuch zu kalt und zu nass. Uns soll es recht sein. Wir Fotografen genießen die Ruhe am frühen Morgen, die grandiosen Lichtstimmungen und den gebremsten Rhythmus, den das allgegenwärtig Wasser ausstrahlt.