Das ist schon ziemlich rätselhaft: da ziehen Regenschauer über´s Land und man soll trotzdem vor die Tür gehen. Und dann scheint die Sonne zur Mittagszeit kräftig vom Himmel und man sollte im Haus bleiben und am Computer arbeiten.
Und das soll normal sein?- Ja, für Fotografen ist das absolut normal. Denn zwischen Regenschauern oder nach einem kräftigen Guss vom Himmel bieten sich optimale Bedingungen zum Fotografieren. Die Landschaft bekommt einen markanten Glanz. Bäume, Dächer und Straßen reflektieren das Licht und die Luft ist rein von Staub.
Bei gleißendem Licht zur Tagesmitte dagegen herrschen meist die schlechtesten Verhältnisse. Das Licht ist steil und schatten-arm, die Lichttemperatur ist schlecht und die Landschaften zeigen kaum Strukturen.
Fotografen sind am frühen Morgen und späten Abend unterwegs. Zur Blauen und Goldenen Stunde, vor und nach dem Sonnenaufgang und -untergang.
Dass wir zu Beginn unserer Reise vor allem von den fotografischen Anfängern skeptische Blicke ernten, kennen wir Referenten schon. Da scheucht man keinen Hund vor die Tür und wir sollen jetzt die Atmosphäre des Bergdorfes bei und nach einem Regen per Bild einfangen. Na, die werden schon wissen, was sie mit uns machen, scheint da so mancher aus der Gruppe denken. Die Erfahrenen der Gruppe wissen natürlich schon, dass man so zum guten Bild kommt und lernt, worauf es ankommt: Empfindungen und Gefühle per Bild übermitteln.
Kontinuierliche Lerneffekte
Proportional umgekehrt verhält es sich mit der Heimarbeit am Computer bei prächtigem Sonnenschein. Bildbearbeitung ist angesagt. Sie soll von Beginn der Reise an kontinuierlich und konsequent Ordnung in die Bildverwaltung dieser Woche bringen und Schritt für Schritt Lerneffekte erzeugen durch die Konfrontation mit dem eigenen Bild. Nur so macht man Fortschritte in der Fotografie. Die beiden Referenten unterstützen bei dieser „Arbeit“, die immer mehr zur Freude wird und bekannterweise bei so manchem zu leichtem bis mittelschwerem „Suchtverhalten“ führt.
Einen zusätzlichen Schub an Freude und Verzückung bekommt das ganze dann noch bei gemeinsamen Bildbesprechungen. Alle Reiseteilnehmer waren am selben Ort und jeder hat andere Motive wahrgenommen oder gleiche Szenen auf ureigene Weise dargestellt. Das bringt erleuchtende Erkenntnisse. Und da wird der gleißende Sonnenschein hinter zugezogenen Vorhängen schnell vergessen.
Bei all dem kommen unsere „Ausflüge“ in die zauberhafte Herbstwelt Südtirols nicht zu kurz. Ganz im Gegenteil: bei der Umrundung des Pragser Wildsees, dem Marsch um die Drei Zinnen – im ersten Frühschnee – und die Fahrt in das vor Bergschönheit strotzende Vilnößtal werden Körper und Geist auf angenehme Weise gefordert. Und dass frühes Aufstehen erst zum wiederholten Male erfolgreich sein kann, um die Blaue und Goldene Stunde am Tagesanbruch fotografisch mit Erfolg zu füllen, erleben wir auch beim Ablichten des massiven Panoramas gleich am Dorfeingang.
Eigene Gesetze
Schon bald erkennen auch die anfänglichen Skeptiker, dass eine Fotoreise ihre eigenen Gesetze hat. Anders als bei Wanderungen, Radtouren oder Kulturreisen heißt es vor allem: Zur rechten Zeit am rechten Ort sein. Und so fügen sie sich mit den Erfahrenen unter uns schnell in den neuen Rhythmus, dem Fotografen folgen und der erfolgreich macht.
Zum Höhepunkt der Reise wird unser Tag auf der Seiser Alm. Für viele – auch mich – ein geradezu mystischer Ort der Ruhe und landschaftlichen Schönheit. Gelassenheit hat sich inzwischen breit gemacht auch unter den Anfängern unter uns. Visuelles Abtasten der Landschaftsstrukturen, Vorstellungen der Bild- und Blickwinkel, mögliche Standorte, Überlegungen zur Wahl der richten Objektive. So geht Fotografie. Bis sich das ideale Licht zeigt, frönt man einfach dem „Hier und Jetzt“, steckt der mild-wärmenden Herbstsonne sein Antlitz entgegen und belohnt sich für die absolvierten und noch vor einem liegenden Schritte über Wege und Wiesen mit leckeren Speisen und Getränken in den urigen Hütten.
Die Stunde der Fotografen
Als sich dann das wunderbare Abendlicht auf die weite Alm legt, ist die Stunde der Fotografen gekommen. Jetzt ist Konzentration gefordert, Intuition und Kreativität. Die Logik tritt in den Hintergrund, es ist die Zeit des Bauchgefühls und der Sinnlichkeit.
Bei der letzten Bildbesprechung zeigt sich die reiche und gute Ernte dieser Woche im immer-wieder-schönen Südtirol. Einige unter uns haben ihre ersten wahren Schritte als Fotografen gemacht, andere haben weitere Erfahrungen gesammelt als Lichtbildner, die sie weiter bringen werden auf ihrem Weg zum ganz persönlichen Stil, an dem jeder passionierte Fotograf so gern und mühsam arbeitet.